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Aufwachen und Erinnern

Writer's picture: Saraswati ShaktimayiSaraswati Shaktimayi

Hier bin ich. Das Passieren der Zeitgrenze mit übermenschlicher Geschwindigkeit, das Überwinden tausender von Kilometer innerhalb von Stunden hoch über der Erde, der Wechsel aus einem kalten, stillen Land, das (mehr oder weniger) in Reih und Glied organisiert ist, wo jeder "seine“ Ruhe hat von zu viel Auseinandersetzung mit den „Anderen“, hin zu einem Land das heiß, laut, turbulent, bunt und geruchsintensiv ist, wo das scheinbar Chaotische nur durch ein sehr unmittelbares Miteinander funktioniert - das ist ein Prozess, der sich anfühlt als würde man durch das berühmte Schlüßelloch gezogen. Das Ich-Gebilde in seiner aktuellen Zusammensetzung muß plastisch werden, bereit seinen Aggregatzustand zu verändern, sich auseinandernehmen und neu zusammensetzen zu lassen. Wie man auf der anderen Seite wieder herauskommt ist nie ganz sicher. In diesem Zustand war ich die letzten Tage. Und ich konnte nicht umhin so große Fragen neu zu erforschen, wie wer ich in diesem Leben überhaupt bin, was hier meine Aufgabe ist und wo ich eigentlich hingehöre. Was war nochmal der Grund warum ich zwischen den Welten wandere? Auch war die Verbundenheit mit meiner Mutter und Schwester, meinen langjährigen Freundinnen und treuen Schüler/innen diesmal besonders spürbar, und entsprechend schwierig sich davon zu lösen. Meiner diesjährigen Abreise nach Indien ist eine Phase vorausgegangen, in der die Frage nach Sinn, Zugehörigkeit, Aufgabe und Wurzeln plötzlich stark aufgekeimt ist – aus verschiedenen gegebenen Anlässen. Ist das was ich mache wirklich meine Aufgabe? An welchem Ort bin ich zu Hause? Darf ich nicht doch irgendwann EINEN äußeren Ort, als sicheren Zufluchtsort mein zu Hause nennen? Und wo sollte der sein? Darf ich mich nicht doch an EINEM Platz Teil eines sozialen Netzwerkes fühlen? Ein Schwall an Fragen... Auf dem dicken Ast vor meinem Fenster tummelt sich in diesem Augenblick ein Streifenhörnchen. Es bleibt stehen und schaut mich direkt an mit seinen schwarzen Kulleraugen und seinem samtigen Fell. Diese Lieblichkeit und Sanftheit, die die Natur hervorbringt! Das Streifenhörnchen schenkt mir einen Moment der Berührtheit, und geht dann seiner Wege. Es zweifelt nicht daran warum es hier ist. Es tut einfach das was es kann und wofür es geschaffen ist. In diesem Moment. Der Tag an dem ich reise ist voller gemischter Gefühle. Der Abschied fällt schwerer als sonst, wieder ein Jahr ohne mit meiner Mutter Weihnachten zu feiern. Wieder bringt sie mich zum Flughafen und wir verabschieden uns wehmütig aber tapfer für so viele Monate. Bin ich reisemüde geworden? Immer wieder ist es aufwendig und schwierig das gewohnte Umfeld zu verlassen, sei es von dort nach hier oder von hier nach dort. Doch auch die altbekannte Vorfreude, das innere Kribbeln, das Gefühl von Freiheit stellen sich ein! Gott sei Dank. Gleichzeitig bemerke ich aber, wie wenig aufgeregt und wie routiniert ich im Vergleich zu meinen früheren Reisen bin. Ich bin fast so gelassen, als würde ich bloß in die Straßenbahn einsteigen und tun was getan werden muß. Vielleicht, weil mein Kopf immer noch besessen ist von der Sinnfrage, gefangen in der Illusion er könnte durch die Denkerei eine endgültige Wahrheit über den "richtigen" Lebensweg enthüllen. Ich muß mich selbst wachrütteln, um die Neuheit des gegenwärtigen Momentes wahrhaben zu können. Nach vielen Stunden im Flugzeug endlich der Landeanflug in Chennai. Ein Gefühl der Vertrautheit und Sicherheit. Keine Angst und keine Unsicherheit. So oft bin ich schon in Indien angekommen. Mein Taxifahrer, „Shiva“, erspäht mich gleich und winkt mit einem Zettel wo „Saraswati“ draufsteht. Er ist äußerst zuvorkommend. Er hat mir eine Flasche Wasser mitgebracht und bietet mir an auf der Fahrt sein Internet zu nutzen. Er weiß was nach so einer langen Reise gebraucht wird. Mir ist nun etwas übel, die Hitze, die Geruchskulisse der indischen Strassen, das Hupen, ein Tempel mit leuchtend bunten Gottheiten, vertraut und fremd zugleich.... es ist etwas überwältigend. Als ich mich vor Müdigkeit auf meinen Rucksack lege um endlich die Augen zu schliessen und loszulassen, macht mich Shiva auf die Pölster aufmerksam, die er zu diesem Zweck in seinem Auto hat. Noch zuvorkommender ist garnicht möglich. Und so sinke ich erschöpft in den weichen, sicheren Schoß von Mother India. Als wir in Auroville ankommen ist es bereits stockfinster. Die Sonne geht ja schon um 18 Uhr unter. Freudiges Begrüßen mit der Familie in dessen Haus ich wohne. Ich bin dankbare Mieterin des oberen Stockwerkes. Auspacken meiner Matratze, Decken und hiergebliebenen Habseligkeiten aus dicken verstaubten Plastikfolien. Was zum Vorschein kommt ist zwar optisch sauber im Vergleich zu allem was nicht verpackt war, es riecht aber trotzdem schimmelig. Als ich mich um 23 Uhr ins Bett (auf die dünne harte Matratze) lege, sind meine Augen weit offen. Die erste Nacht bringt nicht den ersehnten Schlaf. Die Hunde bellen, die Grillen zirpen mit großer Vehemenz, es ist heiß und die Matratze ist ungewohnt hart. Ich bin noch das weiche Bett und eine heilige Ruhe gewöhnt. Mitten in der Nacht wache ich vor Kälte zitternd auf. Es hat plötzlich abgekühlt. Am nächsten Tag ist der Himmel mit dunklen Wolken verhangen und es regnet den ganzen Vormittag in Strömen. Und auch der Strom ist ausgefallen. Und so darf ich in meinem kleinen Reich ankommen, darf dasitzen, aus dem Fenster schauen, den Regen hören, riechen und die frische Brise spüren, die zu den unverglasten Fenstern, die sich in die Baumkronen von Neem- und Mangobaum öffnen, hereinweht. Es gibt einfach nichts was ich nun sonst tun könnte als einfach dazusitzen und das ist genau was nötig ist. Ganz langsam beginnt mein Erwachen.....aus der Trance Europas. Und da erinnere ich mich auch wieder daran, warum ich hier bin. Dies ist mein sicherer Ort der inneren Einkehr, der Inspiration, der Einfachheit des Seins mit mir, mit der Natur, mit meiner Praxis! Der Prozess der „Neuzusammensetzung“ nach der durcheinanderwirbelnden Erfahrung der letzten Tage und Wochen setzt ein. Nach und nach kehren Erinnerungen zurück und das Innere beginnt sich neu anzuordnen. Am Nachmittag, als der Regen verstummt, mache ich die wichtigsten Besorgungen. Zu allererst benötige ich einen Scooter, dann werden Nahrungsmittel eingekauft. Ich bin heilfroh, daß ich stur genug war 2 meiner Kochtöpfe in meinem Koffer mitzuschleppen. Die Kochtöpfe, die ich hier gekauft habe, obwohl aus Edelstahl, werden abartig heiß und alles brennt gleich an, wenn man nur für eine Minute nicht dabeisteht. Als ich nach 6 Monaten Abwesenheit durch die wohlbekannten Strassen und Wege fahre kommt die Erinnerung immer mehr zurück.... daran warum ich hier bin, hier in Auroville. Und vielleicht auch hier im Leben. Es ist als wäre da ein Schleier zwischen den beiden Lebenswelten, ein Schleier des Vergessens, der vielleicht nötig war, um sich in Europa wieder einzufinden. Am Abend, als ich mich zur Praxis vor meinen Altar setze, spüre ich etwas was ich in Wien so schmerzlich vermißt habe. Das Land, die Erde, die ganze Atmosphäre unterstützen mein Sadhana. Südindien ist die Wiege der Verehrung der Göttin, das Zentrum von Sri Vidya, seit tausenden von Jahren. Während es mir in Österreich große Disziplin abverlangt mich zur täglichen Praxis hinzusetzen und es einem Schwimmen gegen den Strom gleicht, ist es mir hier ein natürliches Bedürfnis in Harmonie mit der Umgebung. Ich weiß wieder warum ich die Wohnung so liebe.....es ist meine Klausur! Wie konnte ich das vergessen? Das Leben in Einfachheit, das Schlafen am Boden, die Nähe der Natur, Mangobaum, Neembaum, die zum Fenster hereinschauen, die Ameisenbrigaden und andere respekteinflößende Zeitgenossen, die mit Nachdruck einmaschieren und ihr Wohnrecht einfordern, die unverglasten Fenster, die Stromausfälle, das Sparsame Verwenden von Wasser... die rotgoldene Abendsonne vorm Fenster.... ...ich fühle mich herausgenommen aus dem wahnsinnigen Streben der westlichen Welt, dem unbewußten Hinterherlaufen irgendwelchen eingebildeten Zielen, dem längst unüberblickbar gewordenem Größenwahn, während man die allerursprünglichste Stimme des eigenen Herzens nicht mehr hören kann.....hier höre ich sie wieder. Vertrautheit und Fremde sind zwei Dinge, die in meinem Leben wohl immer sehr nahe beieinander liegen werden. In Österreich die Fremde in der so vertrauten Umgebung, in Indien die Vertrautheit in der Fremde. Und noch etwas ist mir heute klar geworden. Nachdem ich mich in den letzten Wochen (scheinbar) notgedrungener Weise, der Beschäftigung mit Marketing, Steuerdingen und Social Media ergeben habe, ist mein Fokus sehr professionell geworden. Doch jetzt weiß ich wieder: Ich bin nicht hier um ein Retreat zu leiten, obwohl ich voll Dankbarkeit und Vorfreude das Yogini Retreat “Devi`s Daughters“ erwarte, ich bin nicht hier um beruflich zu wachsen, ich bin nicht hier um mich anzusiedeln. Ich bin einfach hier um zu praktizieren, um die überaus wertvolle Gelegenheit zu nutzen, die geschenkten goldenen Momente wahrzunehmen, in das Meer der Liebe zur göttlichen Mutter einzutauchen, hier auf Ihrem Land, darin zu baden und mich von Ihr tragen zu lassen! Wohin das sein wird ist ganz Ihr überlassen. Vor vielen Jahren, als ich das erste Mal zu Swami Gurusharanananda kam und unser gemeinsamer Weg seinen Ausgang nahm, bat er mich genau aufzuschreiben, was es ist was ich mir in diesem Leben am allermeisten wünsche. Diesen Zettel habe ich heute noch und was ich damals schrieb ist meine Essenz. Eins zu sein mit dem Mysterium, der Schönheit der Natur, der Mutter des Universums, sie in allen Formen zu erkennen, als meine Geliebte, mich selbst in allen Formen zu erkennen, in jedem Gesicht, jedem Wesen, jeder Handlung. Jeden Schmerz und jede Freude als meine eigene zu erleben. Alles kommen und alles gehen lassen zu können, ohne Widerstand, ohne Anhaftung. Wissend, daß alles Sie ist. Hier spüre ich diesen Herzenswunsch mit großer Klarheit, nichts anderes ist meine Motivation. Dafür bin ich hier. Hier in Tamil Nadu, und hier in diesem Leben.

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